ESG für Versicherungen: Underwriting und Risikomanagement
Christoph Pies, Counsel, Clyde & Co Europe LLP und Hannah Goertz, B. Sc., Underwriter Financial Lines, Newline Europe Versicherung AG
Die Bilanz der Klimakrise sieht verheerend aus. Studien zeigen, dass die Welt auf eine Erderwärmung von 2,7 Grad Celsius bis Ende des 21. Jahrhunderts gegenüber vorindustrieller Zeit zusteuert. Zwischen den Zusagen der Länder, klimaschädliche Emissionen zu senken und der tatsächlich notwendigen Minderung, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens einzuhalten, klafft eine erhebliche Lücke.
In diesem Zusammenhang hat der Bereich „ESG“, in dem die Klimakrise und die mit ihr einhergehenden Haftungsrisiken verankert sind, für Unternehmen erheblich an Bedeutung gewonnen. ESG steht für die Faktoren „Environment“ (Umwelt), „Social“ (Gesellschaft) sowie „Governance“ (Unternehmensführung), welche die Nachhaltigkeit eines Unternehmens bewertbar machen sollen. Während „Environment“ etwa Aspekte der Umweltverschmutzung oder der Treibhausgasemissionen umfasst, zählen gesellschaftliches Engagement sowie Diversität zum Bereich „Social“. Der Rubrik „Governance“ sind beispielsweise Kontrollprozesse zuzuordnen.
ESG-Risiken und -Chancen können je nach Branche und Unternehmen variieren. Mittels Rating-Modellen spezialisierter Ratingagenturen werden ESG-Risiken je nach Sektoren identifiziert und es wird bewertet, wie umfangreich und nachhaltig Unternehmen die ESG-Kriterien berücksichtigen und umsetzen. ESG-Ratings machen das Thema Nachhaltigkeit also messbar.
Auch auf die Versicherungsbranche können ESG-Themen erhebliche Auswirkungen haben und stehen deshalb mit Blick auf ein ganzheitliches und weitsichtiges Risikomanagement immer mehr im Fokus. Die neuen, vielfältigen, miteinander verknüpften und komplexen ESG-Themen erhöhen die Anforderungen im Hinblick auf die Risikoanalyse und sind bei der Bewertung von Unternehmensrisiken zu berücksichtigen. Um einen umfassenden Underwritingansatz für ESG-Risiken zu entwickeln, muss demnach der individuelle Exponierungsgrad in Bezug auf die drei ESG-Aspekte je Branche festgelegt werden.
Nachfolgend wird daher ein Überblick über wichtige, mit dem Bereich ESG zusammenhängende Themen und Risiken gegeben.
1 Entwicklung einer ESG-Strategie
Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) formuliert in seiner aktuellen Präambel die ausdrückliche Erwartung, dass sich Unternehmen und ihr Management ihrer Rolle und Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewusst sein müssen. Soziale und ökologische Faktoren werden als relevant für den Geschäftserfolg angesehen, was ein klares Bekenntnis zu den Grundsätzen der Nachhaltigkeit darstellt. Darüber hinaus hat die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex am 21.01.2022 einen neuen Entwurf des DCGK angenommen, der vorsieht, dass der Vorstand die sozialen und ökologischen Faktoren, die die Leistung des Unternehmens beeinflussen, sowie die Auswirkungen des Unternehmens auf Mensch und Umwelt, berücksichtigen muss. Nach dem neuen DCGK-Entwurf muss der Aufsichtsrat eines Unternehmens überwachen, wie die Nachhaltigkeit in die Unternehmensstrategie einbezogen wird, und sicherstellen, dass das Risikomanagementsystem des Unternehmens auf nachhaltigkeitsbezogene Fragen ausgerichtet ist.
Um ihren Sorgfaltspflichten nachzukommen, müssen Manager daher komplexe Strategiediskussionen führen, die Neuausrichtung des Geschäftsmodells steuern, das regulatorische und rechtliche Umfeld überwachen sowie auf etwaige Veränderungen reagieren. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass Unternehmen einer verstärkten Prüfung und Überwachung hinsichtlich ihrer ESG-Strategie ausgesetzt sind.
Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder sind verpflichtet, Compliance-Maßnahmen umzusetzen und bewährte Krisenmanagementverfahren im Falle eines Verstoßes anzuwenden, wozu auch die Kommunikation mit Aufsichtsbehörden und Dritten gehört. Weiterhin müssen rechtliche Anforderungen und Empfehlungen zur Berücksichtigung von Klimarisiken und verwandten Themen bei allen neuen Projekten und Aktivitäten in Erwägung gezogen werden. Es müssen Due-Diligence-Rahmenwerke sowie Richtlinien und Verfahren in Bezug auf Mitarbeiter, Vermögenswerte, Operationen und Transaktionen entwickelt und überprüft werden.
2 Risiko durch die Zunahme von Berichtspflichten
Die deutliche Zunahme von Berichtspflichten von Unternehmen ist ebenfalls Ausdruck der wachsenden Bedeutung des Bereichs ESG.
Mit der Taxonomie-Verordnung oder der Offenlegungsverordnung wurden bereits Verordnungen zur Offenlegung u. a. von umweltbezogenen Themen erlassen. Auf nationaler Ebene spielen ESG-Themen vor allem in börsennotierten Gesellschaften eine zunehmend wichtigere Rolle. Gemäß §§ 289b, 289c Abs. 2 HGB ist in der sogenannten nichtfinanziellen Berichterstattung unter anderem auf Umweltbelange einzugehen. Auch auf dem Kapitalmarkt sind umweltbezogene Offenlegungspflichten, etwa im Verhältnis des börsennotierten Unternehmens zu seinen Anlegern, relevant.
In diesem Zusammenhang ist auch der Abschlussbericht des Ausschusses für Nachhaltige Finanzen der Bundesregierung zu nennen, der im März 2021 veröffentlicht wurde und 31 Empfehlungen, unter anderem zu Politik, Berichtspflichten, Wissensaufbau und Finanzprodukten, enthält, wie die deutsche Wirtschaft mit einem nachhaltigen Finanzsystem umgestaltet werden kann.
3 Beachtung der Rechtsstreitigkeiten wegen des Klimawandels
In haftungsrechtlicher Hinsicht sind außerdem die sog. Klimaklagen zu berücksichtigen, die derzeit in aller Munde sind.
3.1 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz
Im August 2021 wurde das am 18.12.2019 in Kraft getretene deutsche Klimaschutzgesetz nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts verschärft und unter anderem ein ehrgeizigeres Treibhausgasminderungsziel von 65 Prozent bis zum Jahr 2030 und 88 Prozent bis zum Jahr 2040 gegenüber 1990 eingeführt. Langfristig verfolgt die Bundesregierung das Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2050.
3.2 Das Shell-Urteil der Rechtsbank Den Haag
In den Niederlanden hat die Rechtsbank Den Haag Shell, Europas größten Ölkonzern, letztes Jahr verurteilt, seine CO2-Emissionen bis 2030 um fast die Hälfte zu verringern. Geklagt hatten insgesamt sieben Umweltorganisationen, darunter auch Greenpeace und Milieudefensie, sowie mehr als 17.000 Bürger. Es bleibt abzuwarten, ob dieses Urteil Bestand haben wird, da die Beklagte in Berufung gegangen ist.
3.3 Das Verfahren gegen RWE
Ein von einer deutschen NGO unterstützter peruanischer Bauer macht den Energiekonzern RWE für Erdrutsche in Peru vor dem Oberlandesgericht Hamm verantwortlich. Das Oberlandesgericht Hamm ist in der Berufungsinstanz in die Beweisaufnahme eingetreten.
3.4 Die Verfahren gegen deutsche Autokonzerne und ein Öl- und Gasunternehmen
Viel Aufsehen erregen auch die Klagen der Geschäftsführer der deutschen Umwelthilfe und Greenpeace sowie weiterer Umweltaktivisten gegen drei große deutsche Autokonzerne und ein Öl- und Gasunternehmen. Inhaltlich geht es, wie auch im Shell-Urteil, um Schutz vor drohenden Beeinträchtigungen und damit um erforderliche Anpassungen des Geschäftsmodells an die Folgen des Klimawandels. Die deutschen Autobauer werden unter anderem aufgefordert, ab 2030 keine PKW mit Verbrennungsmotor mehr in Verkehr zu bringen. Das beklagte
Öl- und Gasunternehmen wird aufgefordert, keine neuen Öl- und Gasfelder mehr zu eröffnen und die globale Förderung zu begrenzen. Zwar erscheint fraglich, ob diese Klagen letztlich Aussicht auf Erfolg haben werden. Dennoch ergreifen viele Unternehmen jetzt Maßnahmen, indem sie sich zur Klimaneutralität verpflichten und sich internationalen Dekarbonisierungsinitiativen anschließen.
3.5 Rechtsstreitigkeiten wegen Offenlegung klimawandelbezogener Risiken
Daneben dreht sich ein Großteil der Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem Klimawandel um die Offenlegung klimawandelbezogener Risiken. Dort, wo bereits eine gesetzliche Verpflichtung zur Berichterstattung über die Risiken des Klimawandels besteht, kann allein die fehlende Offenlegung zu Klagen führen.
3.6 Rechtsstreitigkeiten wegen physischer Haftungsrisiken
Unternehmen setzen sich außerdem bei mangelnden Vorkehrungen gegenüber den physischen Auswirkungen des Klimawandels Haftungsrisiken aus. So können Aktionäre Ansprüche gegen Unternehmen und/oder ihre Führungskräfte geltend machen, weil sie es versäumt haben, die Auswirkungen von physischen oder Übergangsrisiken im Zusammenhang mit dem Klimawandel auf Investitionen angemessen zu berücksichtigen.
3.7 Klagen wegen Greenwashing
Auch können Klagen im Zusammenhang mit „Greenwashing“, also wegen der Übertreibung positiver Umweltauswirkungen oder wegen der Untertreibung von Risiken, erhoben werden. Verbraucher, Aktivisten, Medien, Aufsichtsbehörden, Aktionäre, Mitarbeiter und die Öffentlichkeit hinterfragen zunehmend, was Unternehmen über ihre Umweltfreundlichkeit sagen, und ob dies glaubwürdig und wer dafür verantwortlich ist. Auch wenn Reputationsschäden generell schwer zu beziffern sind, kann der Umstieg des Verbrauchers auf andere Anbieter zu deutlichen Umsatzeinbußen führen. Dies kann dem Unternehmen Schaden zufügen und wiederum Manager schadensersatzpflichtig machen.
4 Liquiditätsrisiko
Es kann ein Liquiditätsrisiko vorliegen, wenn sog. „stranded assets“ nicht mehr gehandelt werden können oder Notkredite angefordert werden müssen. Auch bei der Transformation von Unternehmen hin zu einer nachhaltigen Unternehmensstrategie können möglicherweise hohe finanzielle Belastungen bestehen und es ist zu bewerten, ob das Geschäftsmodell in der Lage ist, den Transformationsprozess zu vollziehen.
5 Versicherungstechnisches Risiko durch physische Schäden
In versicherungstechnischer Hinsicht sind weiterhin Risken zu beachten, wenn zum Beispiel durch veränderte Wettermuster, mehr Extremereignisse und steigende Meeresspiegel (allein oder in Kombination) Schäden an Eigentum und Infrastruktur verursacht werden und höhere Schäden drohen, die möglicherweise nicht angemessen in den Rückstellungen berücksichtigt worden sind. Physische Risiken können sich insofern auf Vermögenswerte und Versicherungsprämien auswirken.
6 Nachhaltigkeit in der Lieferkette
Nachhaltigkeit in der Lieferkette bedeutet Management der ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen sowie Förderung guter Unternehmensführung über den gesamten Lebenszyklus von Produkten und Dienstleistungen.
In diesem Zusammenhang ist das zum 01.01.2023 in Kraft tretende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz zu nennen. Demnach sollen Unternehmen eine ESG-Compliance-Strategie entwickeln und Risiken ihrer eigenen Lieferketten begegnen. Das Unternehmen soll sich insbesondere angemessen darum bemühen, dass es zu keinen Verletzungen von Menschenrechten in der Lieferkette kommt.
Darüber hinaus zielt der am 23.02.2022 von der Europäischen Kommission veröffentlichte Vorschlag für eine neue Richtlinie zu unternehmerischen Sorgfaltspflichten für Nachhaltigkeit (Corporate Sustainability Due Diligence) darauf ab, nachhaltiges und verantwortungsbewusstes unternehmerisches Verhalten in globalen Wertschöpfungsketten zu fördern. Der Vorschlag sieht neue Sorgfaltspflichten vor und verschärft die bestehenden Anforderungen des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes. Der Richtlinienentwurf stellt klar, dass u. a. bei Versicherern Kunden und deren Geschäftsaktivitäten geprüft werden müssen (ausgenommen sind lediglich kleinere und mittlere Unternehmen als Kunden). Insofern ist vor der Zeichnung von Risiken in der Industrie- und Gewerbeversicherung erforderlich, dass geprüft wurde, welche Auswirkungen das Geschäft des Kunden auf Menschen- und Arbeitnehmerrechte und die Umwelt hat. Dabei können Versicherer auf verschiedene Analysemethoden zurückgreifen, die von der Sichtung von Datenbanken auf Verstöße bis hin zu Prüfungen vor Ort bei ausländischen Großrisiken reichen können. Bei der sogenannten Auswirkungsanalyse kann auch auf die Unterstützung externer Dienstleister zugegriffen werden. Letztlich muss aber der Versicherer ein umfassendes Risikomanagement verantworten und laufend überprüfen.
Gerade Umweltrisiken können Einfluss auf die Lieferkette haben und insofern sind vor allem Außenhandelsstrategien aus klimavulnerablen Beschaffungsländern je nach Branche zu bewerten. Unternehmen können einem Kreditrisiko ausgesetzt sein, wie etwa durch den Wertverlust von Sicherheiten durch Naturkatastrophen oder durch hohe Abschreibungen durch die CO2-Steuer. Weiter besteht ein Marktrisiko, wenn Naturkatastrophen die Preisvolatilität erhöhen und eine höhere Unsicherheit über zukünftige Technologien oder Gesetze schaffen.
7 Beachtung der BaFin-Vorgaben
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) verpflichtet die beaufsichtigten Unternehmen, Klimarisiken zu steuern und in ihr Risikomanagement zu integrieren. Mit einem im Dezember 2019 veröffentlichten und im Januar 2020 aktualisierten Leitfaden hat die BaFin ihren beaufsichtigten Unternehmen, insbesondere Banken, Versicherungen, Pensionsfonds und Kapitalverwaltungsgesellschaften, einen unverbindlichen Leitfaden für den Umgang mit Nachhaltigkeits- und insbesondere Klimarisiken zur Verfügung gestellt. Nachhaltigkeit wird aufgrund der steigenden Anlegernachfrage ein zunehmendes Argument bei dem Verkauf von Fondsprodukten. Mit der steigenden Anzahl an Fonds, die als nachhaltig gelabelt werden, geht die Gefahr von Greenwashing einher. Hier will die BaFin mit ihrem im August 2021 veröffentlichten Entwurf einer Richtlinie für nachhaltig ausgerichtete Investmentvermögen vorbeugen.
8 Fazit
Die ESG-Kriterien nehmen angesichts der aufgezeigten Themen eine zunehmend wichtige Rolle bei der Bewertung von Risiken innerhalb des Underwriting ein. Eine angemessene Sensibilität für die Bedeutung der ESG-Thematik ist von hoher Bedeutung. Dabei sollte insbesondere im Blick behalten werden, wie der Gesetzgeber, Aufsichtsbehörden und die Rechtsprechung ESG-Themen und Haftungsrisiken künftig begegnen werden.
Christoph Pies
Counsel
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Dreischeibenhaus 1
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Hannah Goertz, B. Sc.
Underwriter Financial Lines
Newline Europe Versicherung AG
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